Burnout ist grausam (9. Teil)

Chris Marty

Chris Marty,

16. August 2015
Geschichten

Burnout ist grausam (9. Teil)

Im achten Teil erzählte ich Ihnen vom Absturz in die Tiefen der Seele und dem völligen Blackout! Nach einem Jahr ging es Millimeter um Millimeter aufwärts - kaum wahrnehmbar. Da ich eine akzeptable Lösung gefunden hatte, zog ich wieder bei meinen Eltern aus und zurück in die gemeinsame Wohnung mit meiner Partnerin. Da sie länger Ferien hatte, musste die neue Lösung nicht sofort greifen. Ich konnte mir Zeit nehmen und mich erst wieder richtig einleben. Die Höhenangst hatte ich immer noch, aber etwas gedämpfter. Schaute ich im Fernsehen einen Film, in dem von einer höheren Perspektive gedreht wurde, wurde mir sofort schwindlig und ich bekam panikartige Ängste. Ich musste sofort den Raum verlassen, sonst wäre ich aus dem Fenster gesprungen. Bis ich die Höhenangst so im Griff hatte, dass ich auf Szenen im Fernsehen nicht mehr reagierte, vergingen Jahre. - Die grausamen Depressionen dauerten drei Jahre, dann ...

... nahmen sie allmählich ab. Fast täglich kämpfte ich mit den inneren Dämonen und gegen das schwarze Loch in mir, die mich zuerst unter den Zug und dann auf andere Art in den Tod treiben wollten. Immer holte ich mir wieder die Bilder der drei wichtigsten Ereignisse (die Wanderung im Jura, die Ferien im kleinen Häuschen im Tessin und den Gang über den norwegischen Pass) hervor und klammerte mich an sie - wieder und wieder. Es war schauerlich und ein Griff nach einem Strohhalm, der mir oft zu entgleiten oder zu zerbrechen drohte. Ich wusste nicht mehr weiter und hatte keine Perspektive mehr, war völlig ausgelaugt und am Boden zerstört. Die konsultierten Spezialisten fanden nichts, was die starken Magenschmerzen erklärt hätte. Schlimm war auch, dass der Kopf nicht mehr mitmachte. Immer wenn ich etwas las oder mich auf etwas konzentrieren musste, bekam ich einen eigenartigen Druck im Hinterkopf, und mir wurde schwindlig. Mitunter schwankte ich sogar durch den Raum, konnte mich weder konzentrieren noch orientieren und keinen klaren Gedanken mehr fassen. In abgeschwächter Form habe ich diese Symptome auch heute noch: Oft muss ich deshalb Pausen einschalten und darf nicht zu lange arbeiten. 

Ich fand damals die Lösung in der Tagesstätte, die in meiner Stadt ein paar Monate zuvor entstanden war. Sie bot mir von neun bis sechzehn Uhr eine Tagesstruktur mit Mittagessen und verschiedenen Therapieformen. Statt einem Jahr wie normal, blieb ich fünf Jahre dort. Zwischendurch versuchte ich immer wieder mit dem Velo zu fahren: Manchmal gelang es, andere Male nicht. Mir kamen immer wieder die Bilder hoch, als ich damals am Berg nicht mehr weiterkam und hyperventilierte. Auch die Szenen in Murten und Zug waren in solchen Momenten präsent, als ich unter höllischen Ängsten allein gelassen wurde, oder ein anderer Vorfall, den ich Ihnen noch nicht erzählt habe: Ich war einmal mit dem Velo ins Stadtzentrum unterwegs, als ich nicht mehr vorwärts kam. Nach Hause ging auch nicht mehr. Mir war so duslig und ich hatte so fürchterliche Angst es könnte etwas passieren, dass ich mich an einen Abhang legen musste und einfach nur noch warten konnte. Ich versuchte ein Beruhigungsmittel ohne Wasser zu nehmen, was aber nicht half. Nach einer Stunde hatte ich die Panik immer noch nicht im Griff! Mir blieb nichts anderes übrig als an einer wildfremden Haustüre zu läuten und um ein Glas Wasser zu bitten, damit ich eine zweite Tablette schlucken konnte. Das war mir so peinlich, dass mich der Vorfall über viele Jahre hautnah verfolgte. Dies passiert mir auch heute noch, wenn ich allein wegfahre oder Spaziergänge abseits zugänglicher Strassen unternehme. Sofort kommen die Bilder wieder und vereinnahmen mich. 

Ich wollte damals als Unternehmensberater wieder zurück in die Wirtschaft oder nochmals ein bis zwei Jahre weiter studieren. Je länger ich arbeitsunfähig war, desto weniger wurde aus dem Traum. Ich war weg vom Fenster und meine Wirtschaftskarriere kläglich zu Ende. Ich konnte nicht mehr zurück, war nicht mehr auf dem neusten Stand, hatte den Anschluss verpasst. 

Weder die Mediziner noch die Homöopathen wussten Rat und konnten sich nicht erklären, warum ich nach Jahren immer noch kraftlos und erschöpft war. Die Magenkrämpfe begleiteten mich täglich bis etwa ins Jahr 2000, zwölf Jahre nach dem Zusammenbruch, dann verschwanden sie allmählich. 

Ich wechselte die Therapeutin, versuchte andere Heilmethoden, liess mich selber in Heilmethoden einführen und wechselte abermals den Therapeuten. Nichts geschah! Selbst ein Geistheiler, den meine Eltern ohne mein Wissen beauftragten, konnte nichts ausrichten: Mein Gesundheitszustand besserte sich nicht! 

1994 versuchte ich etwas Neues: Ich nahm einen zweistündigen Job pro Woche in der Patientenbetreuung an einem Spital an. Nach den zwei Stunden war ich über Monate jeweils fix und fertig und musste mich regelmässig hinlegen. Oft schlief ich dabei ein, so erschöpft war ich. Dieser Arbeit ging ich ein Jahr lang nach, dann wurde mir zufällig an einer Schule ein kleines Pensum als Hilfskraft angeboten. Ich hatte über Mittag ein Mädchen zu betreuen. Auch da ging es mir nicht besser. Ich hatte Magenkrämpfe und wusste oft nicht wie ich mich drehen sollte, damit die Krämpfe erträglich wurden. Am liebsten wäre ich nach Hause gegangen. 

Von Jahr zu Jahr konnte ich das Pensum an der Schule um einige Stunden erhöhen und so blieb ich, denn die Arbeitsaufallversicherung zahlte schon lange nicht mehr und von etwas musste ich schliesslich leben. Meine Karriere hatte ich abgeschrieben - die war zu Ende!